Wohnen der Zukunft

Drei Städte, drei Gebäude, drei unterschiedliche Antworten im Wohnungsbau und zwei Parallelen: Pieter Bedaux und Marco Notten von Bedaux de Brouwer Architecten (Goirle, Holland), Reinhard Martin (Münster) und Giorgio Gullotta (Hamburg) haben alle mit Backstein gebaut – und konnten damit die Jury des Fritz-Höger-Preises 2020 überzeugen. Ein Gespräch über Neues, das zugleich beständig ist, Akzente setzt, Nachbarschaften aufwertet und trotzdem Rücksicht nimmt.

v.l.n.r. Giorgio Gullotta (Giorgio Gulotta Architekten), Pieter Bedaux und Marco Notten (Bedaux de Brouwer Architecten), Reinhard Martin (Reinhard Martin Architekt BDA)

Herr Gullotta, Herr Martin: Als Sie auf Ihre Bauplätze kamen, was waren Ihre ersten Gedanken zu der gestellten Aufgabe?

Giorgio Gullotta (GG): Mir war das Grundstück bereits vertraut, denn ich habe dort vor Jahren eine DDR-Platte saniert. Es ging also um eine Art Weiterbauen. Mein privater Bauherr wollte möglichst viele Wohnungen schaffen. Mich hat die Frage umgetrieben, wie ich ein eigenständiges Haus und möglichst qualitätsvolle, helle Wohnungen mit Balkonen als gut nutzbare Freiräume hinbekomme. Glücklicherweise habe ich einen Bauherrn, der alles mitmacht.

Reinhard Martin (RM): Für uns war selbstverständlich, sich am Bild des noch weitgehend homogenen und in Backstein gebauten Viertels aus den 1920er-, 1930er-Jahren zu orientieren. Und das Balkonthema war auch bei uns ein wichtiger Punkt. Wir haben vor die sture Lochfassade ein eigenständiges Bauteil mit Loggien gestellt. Zur Straße haben wir eine schallschützende Schicht und als oberen Abschluss und Klammer zwischen Alt- und Neubau ein neues Staffelgeschoss in Holzrahmenbauweise gesetzt.

 

Neben der Architektur selbst, welche Aspekte der ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit waren Ihnen wichtig?

Marco Notten (MN): Wir haben intensiv mit den Landschaftsarchitekten zusammengearbeitet, um Architektur und Grün möglichst eng zu verknüpfen und das vorhandene Grün zu stärken. Wir haben durch eine effiziente Zuteilung kleine Gärten an den Häusern geschaffen und Gelegenheiten zusätzlicher Begrünung eingeplant, etwa mit Kletterpflanzen-Führung an der Fassade oder durch Pergolen.

PB: Wir haben auch Solarpaneele an den Pultdächern. Die Häuser sind an ein Blockheizkraftwerk im Viertel angeschlossen. Uns ging es insgesamt um eine dauerhafte Bauweise.

GG: Ja, denn Architektur muss über mehrere Generationen hinweg Bestand haben. Ich habe auch auf eine anspruchsvolle Ausführung gesetzt und mit dem Bauherrn dazu viele Diskussionen geführt. Ich sage immer: Qualität lohnt sich langfristig.

RM: Der Altbau, den wir erweitert haben, ist ein grundsolides Gebäude, die Struktur war intakt, die sollte gewahrt bleiben. Schon vor 90 Jahren kamen die Backsteine aus einer nahegelegenen Ziegelei, wir sind auch dieses Mal in der Region geblieben. Es wäre unsinnig gewesen, das schöne Mauerwerk und die Holzbalkendecken zu ersetzen und damit viel graue Energie zu verschleudern.

Helle Wohnungen mit Balkonen als zusätzliche Freifläche zeichnen das Berliner Projekt aus.

Herr Gullotta, Sie haben sich für helle Steine entschieden. Meine Vermutung ist, dass sich ein klassisch- roter Ziegelbau mit dem Volumen schlechter mit der Nachbarschaft vertragen würde?

GG: Absolut, das wäre zu laut. Hier war aber auch die Frage: Wie bekommt man so viel Oberfläche gut hin, wie fügt sich das Gebäude gut ein? Ziegel ist ein hartes Material, die Gegend ist es auch. Wir wollten das durch den warmen Sandton etwas weicher gestalten, der Straße einen „frischen Anstrich“ geben. Wir haben etwas Schlämme draufgelassen, denn das Haus sollte berlintypisch und nicht zu glatt werden. Indem wir mit dem Klinker spielen und Licht- und Schattenvarianten erzeugen, haben wir das Haus etwas „kleiner“ gemacht.

RM: Bei unserem viel kleineren Bau ist das ein ganz ähnliches Phänomen: Der alte Kasten rückte einem optisch richtig auf die Pelle. Wir haben zwar das Volumen um rund 40 Prozent erweitert, aber weil es so verschiedene Bauglieder sind, wirkt das Haus zierlicher als vorher.

Wohnhaus Schifffahrter Damm | Reinhard Martin Architekten | Einreichung im Rahmen des Fritz-Höger-Preises 2020

Jede Ihrer Maßnahmen prägt die unmittelbare Umgebung. Wie schätzen Sie den Einfluss Ihrer Häuser auf die Sozialstruktur ein?

RM: Wir hatten eine Ausnahmesituation, denn die meisten Mieter waren wegen des schlechten Standards der Wohnungen bereits freiwillig ausgezogen. Und wir haben mit dem jetzigen Wohnungsangebot auf aktuelle Bedürfnisse reagiert.


Es wurde also niemand verdrängt oder gar die Bewohnerschaft wegen rasant gestiegener Mieten ausgetauscht. Wie schätzen Sie die Situation in einer von DDR-Platten geprägten Nachbarschaft ein, Herr Gullotta?

GG: Das ist eine schwierige Debatte. Günstig sind die Wohnungen nicht. Qualität kostet, da muss auch wieder was reinkommen. Insgesamt glaube ich an die positive Durchmischung, an das Zusammenwachsen von Stadt. Nicht jeder Neubau bedeutet gleich verdrängende Gentrifizierung, muss aber mit dem Bestand harmonieren.

Strip R Eindhoven | Bedaux de Brouwer Architecten | Einreichung im Rahmen des Fritz-Höger-Preises 2020

Eine letzte Frage: Würden Sie gerne selbst in Ihren Häusern wohnen?

MN: Ja, auch, weil ich in der Nähe ohnehin schon lebe. Und weil das Viertel so grün ist und gleichzeitig nahe am Stadtzentrum liegt.

PB: Ich könnte dort leben. Aber meiner Frau gefällt die Idee von 500 neuen Häusern auf einem Fleck nicht.

GG: Ja. Ich baue grundsätzlich alle Häuser so, dass ich mir vorstellen kann, dort auch selbst zu wohnen.

RM: Das ist auch für mich ein Kriterium. Im Geschosswohnungsbau kennen wir die zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer ja nicht. Wir müssen berücksichtigen, dass sich Wohnbedürfnisse ändern. Wir müssen vordenken, damit das, was wir bauen, möglichst lange gültig ist.