Wohnen der Zukunft
Drei Städte, drei Gebäude, drei unterschiedliche Antworten im Wohnungsbau und zwei Parallelen: Pieter Bedaux und Marco Notten von Bedaux de Brouwer Architecten (Goirle, Holland), Reinhard Martin (Münster) und Giorgio Gullotta (Hamburg) haben alle mit Backstein gebaut – und konnten damit die Jury des Fritz-Höger-Preises 2020 überzeugen. Ein Gespräch über Neues, das zugleich beständig ist, Akzente setzt, Nachbarschaften aufwertet und trotzdem Rücksicht nimmt.
Herzlich willkommen in unserer internationalen Runde! Schauen wir zunächst nach Eindhoven. Herr Bedaux, Herr Notten: Ihr Projekt Strijp R in einem ehemaligen Industrieviertel umfasst 36 Gebäude, insgesamt sind dort 500 neue Wohnhäuser entstanden. Wie und wann kamen Sie ins Spiel?
Pieter Bedaux (PB): Wir kamen in der letzten Phase eines langen Prozesses dazu, glücklicherweise, denn die Entwickler waren gerade aus einer Krise heraus. Zu den wenigen Vorgaben gehörte die Anzahl der Häuser und auf das historische Erbe zu reagieren. Ansonsten hatten wir viel Freiheit. Wir wollten mit unseren „kleinen Wohnfabriken“ Bezug zur industriellen Vergangenheit des Ortes herstellen. Hierher kommen viele Wissensarbeiter aus der ganzen Welt, um in der Eindhoven Brainport Region zu arbeiten. Sie wollen Raum, Luft, Licht, kurz: All die Qualitäten, die du in den ehemaligen Fabrikgebäuden findest. Ein Geschenk war dabei der Geländesprung von einem halben Meter zwischen Straßen- und Gartenniveau. Wir mussten uns daher von den üblichen Grundrissen verabschieden, die fast überall in Holland gleich sind, und konnten wieder Architekten sein, diese Besonderheit nutzen und hohe Räume im Erdgeschoss auf zwei Niveaus anordnen.
Herr Gullotta, Herr Martin: Als Sie auf Ihre Bauplätze kamen, was waren Ihre ersten Gedanken zu der gestellten Aufgabe?
Giorgio Gullotta (GG): Mir war das Grundstück bereits vertraut, denn ich habe dort vor Jahren eine DDR-Platte saniert. Es ging also um eine Art Weiterbauen. Mein privater Bauherr wollte möglichst viele Wohnungen schaffen. Mich hat die Frage umgetrieben, wie ich ein eigenständiges Haus und möglichst qualitätsvolle, helle Wohnungen mit Balkonen als gut nutzbare Freiräume hinbekomme. Glücklicherweise habe ich einen Bauherrn, der alles mitmacht.
Reinhard Martin (RM): Für uns war selbstverständlich, sich am Bild des noch weitgehend homogenen und in Backstein gebauten Viertels aus den 1920er-, 1930er-Jahren zu orientieren. Und das Balkonthema war auch bei uns ein wichtiger Punkt. Wir haben vor die sture Lochfassade ein eigenständiges Bauteil mit Loggien gestellt. Zur Straße haben wir eine schallschützende Schicht und als oberen Abschluss und Klammer zwischen Alt- und Neubau ein neues Staffelgeschoss in Holzrahmenbauweise gesetzt.
Neben der Architektur selbst, welche Aspekte der ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit waren Ihnen wichtig?
Marco Notten (MN): Wir haben intensiv mit den Landschaftsarchitekten zusammengearbeitet, um Architektur und Grün möglichst eng zu verknüpfen und das vorhandene Grün zu stärken. Wir haben durch eine effiziente Zuteilung kleine Gärten an den Häusern geschaffen und Gelegenheiten zusätzlicher Begrünung eingeplant, etwa mit Kletterpflanzen-Führung an der Fassade oder durch Pergolen.
PB: Wir haben auch Solarpaneele an den Pultdächern. Die Häuser sind an ein Blockheizkraftwerk im Viertel angeschlossen. Uns ging es insgesamt um eine dauerhafte Bauweise.
GG: Ja, denn Architektur muss über mehrere Generationen hinweg Bestand haben. Ich habe auch auf eine anspruchsvolle Ausführung gesetzt und mit dem Bauherrn dazu viele Diskussionen geführt. Ich sage immer: Qualität lohnt sich langfristig.
RM: Der Altbau, den wir erweitert haben, ist ein grundsolides Gebäude, die Struktur war intakt, die sollte gewahrt bleiben. Schon vor 90 Jahren kamen die Backsteine aus einer nahegelegenen Ziegelei, wir sind auch dieses Mal in der Region geblieben. Es wäre unsinnig gewesen, das schöne Mauerwerk und die Holzbalkendecken zu ersetzen und damit viel graue Energie zu verschleudern.
Eine Klammer zwischen Ihren Gebäuden ist der Ziegel. In Münster scheint das eine selbstverständlichere Wahl als in Berlin. In Eindhoven waren helle Ziegel sogar vorgegeben.
PB: Alle Häuser dort sind mit hellem Ziegel gebaut, dahinter steckte der Wunsch nach einer skulpturalen Qualität. Das hat uns anfangs Kopfschmerzen verursacht. Es ist schwierig, bezahlbaren hellen Ziegel zu finden, denn er muss zweimal gebrannt werden. Unsere Wahl fiel auf eine Firma, die noch im Ringofen brennt. Das Schöne ist, dass dabei sehr vielfältige Steine entstehen.
MN: Es gab viele Bemusterungstermine, das war ein schöner Prozess. Wir wollten lebendige Fassaden und haben sie bekommen.
RM: So ein Haus lebt, da gebe ich Herrn Notten Recht. Bei uns sind große Teile der Außenwand des Altbaus noch sichtbar und damit die Geschichte des Hauses. Die Anbauten bestehen wieder aus Wasserstrichziegeln, keiner ist wie der andere. Der Ton ist aus einer anderen Grube und heller als der des Altbaus. Je nach Tageszeit und Wetter ändert sich das Erscheinungsbild. Trotzdem ist der Gesamteindruck ruhig.
Herr Gullotta, Sie haben sich für helle Steine entschieden. Meine Vermutung ist, dass sich ein klassisch- roter Ziegelbau mit dem Volumen schlechter mit der Nachbarschaft vertragen würde?
GG: Absolut, das wäre zu laut. Hier war aber auch die Frage: Wie bekommt man so viel Oberfläche gut hin, wie fügt sich das Gebäude gut ein? Ziegel ist ein hartes Material, die Gegend ist es auch. Wir wollten das durch den warmen Sandton etwas weicher gestalten, der Straße einen „frischen Anstrich“ geben. Wir haben etwas Schlämme draufgelassen, denn das Haus sollte berlintypisch und nicht zu glatt werden. Indem wir mit dem Klinker spielen und Licht- und Schattenvarianten erzeugen, haben wir das Haus etwas „kleiner“ gemacht.
RM: Bei unserem viel kleineren Bau ist das ein ganz ähnliches Phänomen: Der alte Kasten rückte einem optisch richtig auf die Pelle. Wir haben zwar das Volumen um rund 40 Prozent erweitert, aber weil es so verschiedene Bauglieder sind, wirkt das Haus zierlicher als vorher.
Sie alle kennen das Thema Wohnungsknappheit und haben in unterschiedlichen Maßstäben darauf reagiert. Ist die Verdichtung von innerstädtischen Quartieren eine gute Antwort?
PB: Das ist auch in Holland eine große Diskussion. Es gibt Entwickler, die gezielt nach Möglichkeiten der Verdichtung in der Stadt suchen. Strijp R ist ein gutes Beispiel.
MN: Hier sagen sie, dass in den nächsten Jahren eine Million Häuser entstehen müssen. Ich lebe in Eindhoven; die Region leidet unter großem Wohnungsmangel. Strijp R gehört in eine Reihe ähnlicher Situationen: Während der industriellen Phase leben dort nur die, die vor Ort arbeiteten. Seit rund 20 Jahren verwandeln sich diese Gebiete. Sie liegen meist in attraktiven Lagen, die Leute ziehen gerne dorthin.
GG: Man muss zunächst jeden Ort für sich betrachten, um die passende Antwort zu finden. Ich versuche auch mal, dem Bauherrn auf den ersten Blick weniger wirtschaftliche Lösungen schmackhaft zu machen, also nicht einfach alles zuzubauen. Eine unserer Grundaufgaben ist, im Stadtraum Qualitäten zu schaffen. Stadtkanten sind für die Menschen wichtig, nicht aufgerissene Felder. Wenn wir uns alte Stadtgrundrisse mit sauber geschlossenen Baurändern anschauen, haben wir einen ganz anderen Stadtraum. Man muss vielleicht auch mal veraltete Vorgaben des Bebauungsplans ignorieren, um zeitgemäße Antworten zu geben, etwa Fahrradrampen statt Parkbuchten anbieten. Aber nur, wenn wir Architekten das gemeinsam mit Bauherren und Verwaltung tun, bekommen wir das hin. Das ist anstrengender, als von der Stange zu bauen, es geht nur mit Leidenschaft.
RM: Da kann ich nur zustimmen. Die Behörden fürchten die Reaktionen der Nachbarschaft, sind im Genehmigungsverfahren oft nicht mutig genug. Die Akzeptanz bei den Menschen ist aber höher als man vermutet. Ich plädiere sehr für die Verdichtung. Es gibt genug Baulücken. Man müsste in der Politik viel mehr für dieses Potenzial, wo auch die Infrastruktur schon da ist, werben. Es genügt aber nicht, jeden freien Platz zuzubauen, um bestehende Quartiere sinnvoll zu erweitern. Man muss auch den Freiraum schützen.
Jede Ihrer Maßnahmen prägt die unmittelbare Umgebung. Wie schätzen Sie den Einfluss Ihrer Häuser auf die Sozialstruktur ein?
RM: Wir hatten eine Ausnahmesituation, denn die meisten Mieter waren wegen des schlechten Standards der Wohnungen bereits freiwillig ausgezogen. Und wir haben mit dem jetzigen Wohnungsangebot auf aktuelle Bedürfnisse reagiert.
Es wurde also niemand verdrängt oder gar die Bewohnerschaft wegen rasant gestiegener Mieten ausgetauscht. Wie schätzen Sie die Situation in einer von DDR-Platten geprägten Nachbarschaft ein, Herr Gullotta?
GG: Das ist eine schwierige Debatte. Günstig sind die Wohnungen nicht. Qualität kostet, da muss auch wieder was reinkommen. Insgesamt glaube ich an die positive Durchmischung, an das Zusammenwachsen von Stadt. Nicht jeder Neubau bedeutet gleich verdrängende Gentrifizierung, muss aber mit dem Bestand harmonieren.
Herr Bedaux, Herr Notten, die größte Verwandlung in diesem Reigen haben Sie mitgestaltet. Ist dieser Prozess inzwischen abgeschlossen, und wird das neue Wohnviertel angenommen? Gibt es viele, die nun von den Zuzüglern verdrängt werden?
PB: Das Projekt ist abgeschlossen. Und hat in Holland auch schon Eindruck als role model gemacht.
MN: In den Strip-R-Distrikt kommen viele Leute, die Geld ausgeben können. Für andere ist genau das das Problem: Sie werden vom Wohnungsmarkt verdrängt. Es ist aber insgesamt eher eine Nachbarschaft für Menschen, die Eigentum suchen, nicht für Ansässige, die umziehen wollen. Das ist schon deshalb interessant, weil das direkt angrenzende Viertel mit den ehemaligen Arbeiterhäusern von einer ganz anderen Schicht bewohnt wird. Es existieren also zwei parallele Welten, von denen wir hoffen, dass sie sich mischen werden.
PB: Im Viertel selbst spürt man durchaus schon einen positiven Effekt: Da wir uns in einem Bezirk mit hoher Dichte befinden, wollten wir die Menschen stimulieren, den öffentlichen Raum zu nutzen. Die Umgebung ist sehr grün. Die schmalen Straßen waren zunächst etwas anonym, also haben wir Elemente verwendet, um die Menschen einzuladen, rauszugehen und sich zu treffen.
MN: Es ist noch zu früh, das abschließend zu beurteilen. Der Freiraum ist gerade erst fertiggestellt, das Grün muss noch wachsen. Aber ich glaube auch, dass die überwiegend jungen Menschen dort bereit sind, unsere Angebote anzunehmen. Man sieht schon Bänke und Blumentöpfe vor den Türen.
Eine letzte Frage: Würden Sie gerne selbst in Ihren Häusern wohnen?
MN: Ja, auch, weil ich in der Nähe ohnehin schon lebe. Und weil das Viertel so grün ist und gleichzeitig nahe am Stadtzentrum liegt.
PB: Ich könnte dort leben. Aber meiner Frau gefällt die Idee von 500 neuen Häusern auf einem Fleck nicht.
GG: Ja. Ich baue grundsätzlich alle Häuser so, dass ich mir vorstellen kann, dort auch selbst zu wohnen.
RM: Das ist auch für mich ein Kriterium. Im Geschosswohnungsbau kennen wir die zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer ja nicht. Wir müssen berücksichtigen, dass sich Wohnbedürfnisse ändern. Wir müssen vordenken, damit das, was wir bauen, möglichst lange gültig ist.