Die Stadt als fragiles Ganzes
Im architektonischen Spannungsfeld der Stadtlandschaft nehmen öffentliche Bauten eine ganz besondere Rolle ein. Welche Faktoren ein gelungenes Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Bauten, zwischen Stadttextur und Wahrzeichen beeinflussen, fand Rudolf Finsterwalder für VORTEILE im Interview mit Álvaro Siza heraus.
Rudolf Finsterwalder: Guten Morgen, Herr Siza. Welches Ihrer Projekte ist in seiner Funktion als öffentliches Gebäude für Sie das interessanteste?
Álvaro Siza: Dazu gehört sicherlich das Museum im brasilianischen Porto Alegre, weil ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin. Glücklicherweise hatten wir ein großartiges Team und einen sehr interessanten Kunden – die Grundvoraussetzung für gute Architektur. Das Projektteam, die Ingenieure und auch die Bauunternehmen wurden nicht nach dem besten Angebot ausgewählt, sondern nach der Qualität. So hatten wir einerseits das allerbeste Team und die bestmögliche Unterstützung, andererseits aber auch die größtmögliche Freiheit in der Umsetzung.
Für mich gibt es in der Architektur besonders in Bezug auf die Detailgestaltung eine wichtige Frage, die sich an den Gegensätzen heilig und profan festmachen lässt. Gibt es in Ihrer Arbeit diesbezüglich einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Bauten? Für die meisten Architekten ist das öffentliche Gebäude heiliger als das private. In diesem Sinne werden beispielsweise die Details der meisten Kirchen ausgestaltet.
Das ist in all meinen Projekten – ob privat oder öffentlich – dasselbe. Das Wichtigste ist der Kunde und ob er an guter Architektur interessiert ist oder nicht. Alles hängt von einer guten Beziehung zwischen dem Architekten und dem Kunden ab. Ich sage immer: Der erste Architekt ist der Kunde. Architektur ist also zunächst einmal ein Dialog: ein Dialog mit dem Projektteam und ein Dialog mit dem Kunden und den Bauunternehmen.
Eine sehr schöne Erfahrung war in dieser Hinsicht mein Projekt in Marco de Canavezes. Es war die erste Kirche, die ich plante, und der Priester dort war ein junger, sehr intelligenter Mann, der mich in meiner Arbeit sehr unterstützte.
Eines der wichtigsten Themen damals war die Reformation der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Bis dahin stand der Priester immer mit dem Rücken zur Gemeinde, fortan sollte er sich den Gläubigen zuwenden. Das veränderte alles – Jahrhunderte der Architektur mit der Apsis – und beinhaltete auch eine wesentliche Veränderung der räumlichen Organisation. Die neuen Kirchen mit der Gemeinde im Zentrum sahen ein bisschen aus wie Amphitheater. Als ich diese Kirche dann plante, hatte ich das Gefühl, dass etwas Wichtiges fehlte. Für die Kirche von Marco de Canavezes griff ich viele kirchentypische Themen auf, zum Beispiel die Achsen und die Verwendung von natürlichem Licht. Ich stand in einem intensiven Dialog mit den Theologen und erfuhr, dass es zahlreiche Möglichkeiten gab, mit der Liturgie zu arbeiten.
Rudolf Finsterwalder: Die meisten Architekten machen bei der Detailgestaltung einen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Gebäude. In Ihrer Arbeit gibt es einen solchen Unterschied meines Wissens nicht. Stimmt das?
Álvaro Siza: Ja, bei privaten Gebäuden findet ebenfalls ein Dialog mit Menschen statt, vor allem mit der Familie, was wichtig ist und eine Fülle an Details hervorbringt – wenn auch natürlich in einem kleineren Maßstab. Der Unterschied zwischen einem privaten Wohnhaus und einem öffentlichen Gebäude liegt auf der Hand: Das Privathaus ist eine Zelle, die sich ständig wiederholt, doch das öffentliche Gebäude sticht heraus. In der Stadtlandschaft nimmt das öffentliche Bauwerk eine Sonderrolle ein. Es hat einen gewissen Einfluss auf seine Umgebung, die das Wohngebäude nicht hat.
Zumindest in einer Demokratie sind öffentliche Bauten für alle Menschen zugänglich. Das ist jedoch auch schon der einzige Unterschied. Alles andere hängt vom Dialog und vom Programm für den jeweiligen Gebäudetyp ab.
Was halten Sie von Bruno Tauts Konzept der Stadtkrone? Taut vertrat die Ansicht, dass es in größeren Städten ein Bauwerk als architektonischen Mittelpunkt geben müsse, um den herum die Stadt sich organisiert, wie zum Beispiel die Kathedrale von Porto.
Ich kenne diese Idee und finde sie richtig. Sehr häufig dienen öffentliche Bauten aber nicht den notwendigen öffentlichen Interessen. Heutzutage gibt es in vielen Städten eine ganze Menge großer öffentlicher Gebäude – die Situation ist also eine andere. Mir persönlich ist das Gleichgewicht zwischen der Textur einer Stadt und ihren Wahrzeichen wichtig. Wer beispielsweise nach Paris reist, besucht dort nicht die Vororte, sondern die bekannten Bauwerke. Als ich mir die Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin angesehen habe, gefiel mir besonders der öffentliche Raum, den er geschaffen hatte und der sich von den umliegenden Wohngebäuden unterscheidet.
Rudolf Finsterwalder: In Berlin und in anderen Städten findet aktuell eine Debatte über den öffentlichen Raum statt. Wem gehört er und wie kann er geschützt werden?
Álvaro Siza: Für mich kommt es darauf an, dass ein Gleichgewicht zwischen öffentlichen Bauten, privaten Gebäuden und dem öffentlichen Raum herrscht. All das bildet ein fragiles Ganzes. Es ist nicht möglich, diese Teile voneinander zu trennen und separat darüber zu diskutieren. Insofern ist es nicht allein der öffentliche Raum, der eine Stadt ausmacht, sondern es sind alle Teile im Zusammenspiel.
In Deutschland bemühen sich die Behörden sehr stark, den öffentlichen Raum und vor allem öffentliche Bauten zu kontrollieren. So versuchen sie beispielsweise mit Bebauungsplänen die bauliche Entwicklung zu steuern und einen einheitlichen architektonischen Stil durchzusetzen. Halten Sie diese Politik für angemessen oder haben Sie andere Ideen?
Aus meiner Sicht ist im Gegensatz zu früheren Städten eine gewisse Aufgeschlossenheit nötig. Kreuzberg etwa ist mit seinen Fluchten und den Fassaden mit Löchern sehr kontrolliert, sehr systematisch. Das entsprach allerdings damals, als der Stadtteil entstand, auch den damaligen Vorstellungen von Wohnen und Gesellschaft – das war quasi gesellschaftlicher Konsens. Es gab ein Gleichgewicht zwischen der Einzigartigkeit öffentlicher Bauten und privaten Gebäuden. Heute ist die Situation vollkommen anders. Alles ist viel komplexer und gleichgültiger geworden. Deshalb ist es sehr schwer, ein Gleichgewicht herzustellen. Das ist allerdings weniger ein Problem der Architektur als vielmehr der Menschheit und der Gesellschaft. Die politischen Ideen gehen heutzutage so weit auseinander, dass es schwierig ist, klare Entscheidungen zu treffen. Nehmen wir die aktuelle Lage in Europa: Einerseits erleben wir viele Veränderungen durch die Einwanderer, die zu uns kommen, andererseits brauchen wir diese Menschen, weil die Geburtsraten in Europa rückläufig sind, und trotzdem versuchen wir, die Grenzen dichtzumachen. Das ist ein komplexes Problem. Ich erinnere mich: Als ich in den Achtzigerjahren in Berlin arbeitete, gab es solche Konflikte bereits mit den türkischen Einwanderern, doch zu der damaligen Zeit war die Stadt schon fast fertiggestellt.
Rudolf Finsterwalder: Glauben Sie denn, dass sich das Problem der hohen Komplexität mithilfe der Architektur lösen lässt? Die Bruder-Klaus-Feldkapelle von Peter Zumthor etwa, zeichnet sich ja durch eine reduzierte Architektur aus und kann die Menschen dennoch auf gewisse Weise berühren.
Álvaro Siza: Bevor wir andere Menschen berühren können, müssen wir jedoch erst einmal Kunden berühren. Die Architektur selbst kann nicht sonderlich viel bewirken. Das ist schwierig und komplex: Vor allem für die Entwicklung von Städten und ihren öffentlichen Bauten braucht es ein gutes Team, das alle Beteiligten zusammenbringt, um etwas Qualitätsvolles zu realisieren.
Es gibt einige Beispiele, wo das funktioniert hat, etwa die Arbeit von Jan Gehl in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Gehl hat die Stadt über viele Jahre von einer autodominierten Stadt in eine Fußgänger- und Fahrradstadt verwandelt.
Ja, irgendwie ist es ihm gelungen, die politische Diskussion über die Stadtentwicklung zu beeinflussen. Teil dieses Erfolgs ist die besondere Situation in diesen Ländern: Es gibt eine starke Wirtschaft und ein sehr soziales, friedliches politisches Klima.
Rudolf Finsterwalder: Karl Heinrich Schinkel erhielt ein Jahresgehalt vom König und entwickelte frei von wirtschaftlichen Zwängen eine neue Architektursprache. Er veröffentlichte seine Projekte und viele seiner Kollegen kopierten seine Fassaden. Aus diesem Grund sah Berlin damals sehr harmonisch aus. Heutzutage ist das vollkommen anders: Es gibt keinen architektonischen Konsens.
Álvaro Siza: Der Grund dafür ist, dass die Anfragen andere sind: Das Problem fängt an, bevor die Architektur ins Spiel kommt. In früheren Zeiten wurde die Architektur eher durch die technische und bautechnische Entwicklung bestimmt, aber auch durch andere Faktoren wie zum Beispiel die Frage, ob man einen Auftrag überhaupt bekam oder nicht. Michelangelo erhielt zu seiner Zeit sehr viele Aufträge von der katholischen Kirche und entwarf geniale Architektur. Doch als ein neuer Papst gewählt wurde, kamen andere Architekten zum Zug. Architektur hängt also immer von den Kunden ab.
Der sogenannte Bilbao-Effekt, der sich vom Erfolg der Arbeit Frank O. Gehrys in Bilbao ableitet, führte weltweit zu einer Reihe ähnlicher Versuche. Viele Städte versuchen mit solchen Projekten, den Tourismus und andere Branchen anzukurbeln.
Als ich erfahren habe, dass Frank Gehry in einer solch schwierigen Situation – damals klaffte quasi ein Loch in der Stadt – ein Gebäude planen und errichten wollte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie er das anstellen würde. Mit großer Einsicht und Sensibilität ist es ihm jedoch gelungen, ein geniales architektonisches Bauwerk zu erschaffen. Das Guggenheim-Museum hat eine sehr positive Wirkung auf sein Umfeld und bildet ein wunderbares Ensemble, das auf die gesamte Stadt ausstrahlt.
Der Bilbao-Effekt hat jedoch auch eine Kehrseite, denn nicht jedes spektakuläre Bauwerk hat dieselbe Wirkung – manche haben auch einen sehr negativen Einfluss auf ihr Umfeld.
Architektur kann also auch gesellschaftlich etwas bewegen. Beispiele dafür sind Projekte wie das Guggenheim-Museum in Bilbao, das die Stadt aufgewertet hat, aber auch die Feldkapelle von Peter Zumthor, die Menschen berühren kann.
Sicherlich kann die Architektur in vielerlei Weise einen Beitrag leisten. Das zu erreichen, ist jedoch sehr schwer und komplex, weil es von vielen Dingen abhängt. Wir werden jedoch weiterhin unser Bestes versuchen.