Weiterbau des städtischen Erbes
Die beiden katalanischen Architekturbüros Barozzi Veiga und HARQUITECTES haben beim Fritz-Höger-Preis 2020 hoch gepunktet. Ersteres realisierte in Lausanne auf einem ehemaligen Bahnareal einen wichtigen Baustein für ein neues Kunstquartier, das Musée cantonal des Beaux-Arts, letzteres in Barcelona mit den Restbeständen einer ehemaligen Glasfabrik das Civic Centre 1015, eine Schule für Erwachsenenbildung. Wir haben mit Fabrizio Barozzi und Josep Ricart Ulldemolins über ausufernde Großprojekte und knifflige Grundstücke gesprochen.
In Deutschland wird die europäische Stadt stark diskutiert. Was bedeutet diese für Sie?
Josep Ricart Ulldemolins (JRU): Der grundlegende Charakter der europäischen Stadt ist Dichte. Die Gemeinsamkeit ist, dass öffentlicher Raum gestal- tet ist. Er ist das Ergebnis von städtebaulichen Überlegungen, wie er von allen Menschen genutzt werden kann. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der mediterranen und der nordeuropäischen Stadt, schon allein wegen des Klimas. Vielleicht sorgt die wirtschaftliche Situation dafür, dass in Nordeuropa rücksichtsvoller mit unbebauten Flächen umgegangen wird. In mediterranen Städten ist das nicht so. Hier muss die Öffentlichkeit Druck machen, um die Bedeutung von gut gestaltetem Freiraum hervorzuheben.
Fabrizio Barozzi (FB): Ich glaube, dass gemeinsame Elemente die europäische Stadt definieren. Ihre Identität fußt in der Ansammlung von Vielfältigkeit und historischen Schichten, die sich im städtischen Raum ausdrücken. Die wichtigsten Eigenschaften sind für mich die Qualität und Bedeutung von öffentlichem Raum, die Dichte und Kompakt- heit des städtischen Gewebes, das Grün als strukturierendes Element und die Nähe von verschiedenen Dienstleistungen und Funktionen. Kurz: Konditionen, die für Lebensqualität und Gemeinschaft sorgen.
Wie ist es – unabhängig vom Denkmalschutz – um die Freiheit der Architekten bestellt, öffentlichen Raum zu gestalten?
JRU: In Spanien, speziell in Katalonien, sind die Normen für den öffentlichen Raum sehr streng. Aber das heißt nicht unbedingt, dass das Endergebnis dem öffentlichen Raum eine höhere Attraktivität verschafft. Es gibt die Redewendung „Ser más papista que el pápa“ (dt. „Päpstlicher sein als der Papst“). Wir sind eine junge Demokratie – sehr jung, wenn es darum geht, als Gesellschaft beispielsweise für die Rechte behinderter Menschen oder generell Bürgerrechte einzutreten. Also über- treiben wir es vielleicht noch ein wenig mit Regularien. Ich bin grundsätzlich einverstanden damit, aber die, die sie aufstellen, unterstützen nicht ihre kreative Interpretation. Wir haben auch viel Freiheit, kleine und mittelgroße Projekte auf einem hohen handwerklichen Niveau durchzuführen. Das ist für uns sehr wichtig, denn es ist Teil unseres Verständnisses von Architektur, die ja den Freiraum immer mitbestimmt. Wir möchten Komfort herstellen und gleichzeitig ein sinnliches Erlebnis schaffen.
FB: Wir versuchen immer, die Geschichte, die ein Ort erzählt, fortzuführen, indem wir unsere Gebäu- de als neue Schicht, als gegenwärtige Transformation etwas Existierendem hinzufügen. Bei vielen Projekten möchten wir historische oder umgebungstypische Merkmale erhalten. Wir versuchen, neue Möglichkeiten für den Ort zu finden, ohne ihm Beschränkungen aufzuerlegen. Es geht darum, eine gewisse Freiheit innerhalb einer vorgegebenen Situation zu finden.
In Deutschland stehen Großprojekte in der Kritik. Sie sind oft zeitintensive Never-ending Stories und zu teuer. Wie sind Ihre Erfahrungen in Spanien? Wie schätzen Sie die Berechtigung solcher monströsen Planungs- und Bauprozesse ein?
JRU: Diese Never-ending Stories passieren überall, vielleicht in Spanien seltener als in Deutschland. Das könnte daran liegen, dass dort die Kontrollen strenger und detaillierter sind. Niemand möchte einen Fehler machen oder dafür verantwortlich sein, also blasen wir diese Prozesse auf. Natürlich sind sie bei einem komplexen Gebäude komplizierter – wir diskutieren bei uns im Büro auch das Verhältnis zwischen der Komplexität eines Projekts und der Zeit, die wir brauchen, es zu realisieren.
FB: Wir haben keine Erfahrungen mit Großprojekten in Spanien. Aber wir glauben: Je umfassender der Eingriff ist, desto stärker sind seine Auswirkungen. Deshalb die Diskussionen um ausladende Projekte. Wir glauben auch, dass sich Städte durch solche Großprojekte – wenn sie realisiert werden – manchmal verwandeln. Beispielsweise, wenn es um wichtige Sporteinrichtungen oder Expos geht. Das kann man gut oder schlecht finden. Was wir für fundamental halten, ist die Art, wie diese Projekte während ihrer „Laufzeit“ agieren oder reagieren und wie sich ihr Einfluss über die Jahre überprüfen lässt.
Nun konkreter zu Ihren Gebäuden: Beide Häuser beziehungsweise das, was von ihnen übrig war, zeigen industriellen Charakter, beide antworten auf eine sich verändernde Nachbarschaft oder tragen zu diesem Wandel bei. Hat Sie das beeinflusst, mit Backstein zu bauen?
JRU: Wir haben viele Gebäude im Kontext bestehender Konstruktionen gebaut. Unabhängig davon, ob dieses Erbe kulturell anerkannt ist oder nicht, geschieht unsere erste Annäherung immer über die Merkmale, die noch da sind. Vor der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Civic Centre war unsere erste Frage, ob die übriggebliebenen Wände noch bautechnisch und thermisch funktionieren. Backstein ist dafür ein günstiges, einfaches, lokales Produkt und der einfachste Weg, eine tragende Wand zu bauen. Er ist außerdem schön. Deshalb arbeiten wir mit Backstein.
FB: In Lausanne war klar, dass es um eine städtische Transformation ging; wir wurden beauftragt, einen neuen Kulturstandort zu bauen. Wir haben versucht, den industriellen Charakter und die Geschichte des Ortes zu erhalten. Dazu gehörte auch die Wahl des Materials, um mit dem Backstein eine Beziehung zum Vorhandenen herzustellen.
In beiden Fällen mussten Sie mit sehr ungewöhnlich geschnittenen Grundstücken umgehen. In Lausanne ist es extrem lang und schmal, in Barcelona dreieckig. War das eher ein Hindernis oder im Gegenteil Inspiration für innovative Ideen?
FB: Unserer Erfahrung nach gibt es das ideale Grundstück nicht. Jedes Gebiet hat einen anderen Aufbau, eigene Merkmale und Einschränkungen. Wir gehen von diesen Konditionen aus, interpretieren den Ort und arbeiten an einer neuen Erzählebene. All diese Orte verpflichten einen zu bestimmten Handlungsweisen, und unser Job ist, innovative Strategien für ihre Nutzung zu entwickeln.
JRU: Da stimme ich zu. Architektur beginnt immer mit etwas bereits Existierendem. Auch ein Backstein ist etwas, was bereits da ist. Es wäre also unfair, sich über ein schwieriges Grundstück oder ein kleines Budget zu beschweren. Im Wettbewerb zum Civic Centre gab es nur zwei Bedingungen: Wir sollten die historischen Fassaden respektieren und diese bizarre Grundstücksform beibehalten. Es war schwierig, das erforderliche Raumprogramm in dieser Geometrie unterzubringen. Wir haben uns entschieden, die Schwierigkeiten als Vorteil zu sehen. Ich glaube, das Ende der Geschichte ist gelungen.
Fabrizio Barozzi, Sie haben den zentralen Giebel des ehemaligen Lokschuppens in das Museum implantiert und damit das Bild der alten Bahnhofshalle im heutigen Foyer weiterleben lassen. Würden Sie vor dem Hintergrund der anschwellenden Diskussion um das Weiterbauen im Bestand anstelle von Abriss heute mehr vom Altbau stehenlassen?
FB: Wir haben sowohl während des Wettbewerbs als auch in der Projektphase auf verschiedenen Ebenen untersucht, wieweit sich das existierende Gebäude erhalten und umbauen lässt. Es gab eine fächerübergreifende Analyse, die zu dem Schluss kam, dass seine architektonische Qualität schlecht war und sich nicht in ein Museum mit seinen Anforderungen umbauen ließ. Deshalb haben wir uns für einen Neubau entschieden. Trotz Abriss haben wir aber dieses markante Fragment des historischen Bestands erhalten und als Startpunkt für die neue Architektur genommen.
Wo beginnt die Gratwanderung zwischen dem Erbe eines Bauplatzes und der Notwendigkeit, steigende Anforderungen zu erfüllen?
JRU: Lassen Sie mich das allgemein beantworten. Die Hauptherausforderung unserer Gesellschaft ist die Verantwortung für die Umwelt, die Nachhaltigkeit und die Ressourcenkrise. Uns unserer sozialen Verantwortung bewusst zu sein, ist wichtig, damit wir zukunftsfähige, wandlungsfähige Gebäude herstellen. In der Herausforderung der Nachhaltigkeit sehe ich eine große Chance: etwas Einfaches zu verwenden und damit die traditionellen Bauweisen wiederzuentdecken. Unsere einheimischen Konstruktionen etwa sind vollkommen auf thermodynamischen Prinzipien aufgebaut: massive Wände, Querlüftung, Materialien, die die Wände atmen lassen und die Feuchtigkeit ausgleichen. Das ist die große Chance für die Zukunft, weil es preiswert und nachhaltig ist und bedeutet, lokal zu agieren. Das haben wir mit dem Civic Center gemacht.
FB: Für uns ist es sehr aufregend, mit vorhandenen Bauten und bestehendem Erbe zu arbeiten. Es macht unsere Projekte komplexer und interessanter. Wir glauben, dass es keinen Sinn macht, sich entweder auf den Erhalt von Substanz oder auf das neue Gebäude zu konzentrieren. Es ist wichtig, eine Balance zwischen dem Schutz und den Qualitäten des Erbes und neuen Bauten zu finden, die in der Lage sind, den Bestand zu stärken.
Kommen wir abschließend noch einmal auf die europäische Stadt zurück. Was wünschen Sie sich für sie?
FB: Wir finden, dass das Modell europäische Stadt ziemlich gut funktioniert. Sie garantiert eine gewisse Lebensqualität und überhaupt Lebendigkeit, auch wegen der Ausgewogenheit von öffentlichem Raum und Gebautem, menschlichen Begegnungen usw. Deshalb halten wir es für wichtig, dieses Modell zu erhalten und es immer noch nachhaltiger zu machen. Nicht nur energetisch, sondern auch ganzheitlich betrachtet.
JRU: In den 1990er-Jahren galt der Sprawl (dt. Zersiedelung) mit seinen Problemen als Feind. Jetzt müssen wir nochmal über das Klima reden. Ich denke, dass die Zukunft der mediterranen Städte ein wenig Sprawl braucht. Zu enge Städte werden schlicht zu heiß. In Barcelona gehen die Temperaturen im Sommer nicht mehr unter 20 Grad. Das ist neu. Wir brauchen also weniger Dichte, mehr Durchlässigkeit für Regen und weniger Versiegelung. Barcelona und andere mediterrane Städte sind absolut undurchlässig für Regen. Wir brauchen „weichere“ Städte, um das Wasser für die Begrünung und auch als Energielieferant sinnvoll zu nutzen. Vielleicht ist es in den Städten im Norden umgekehrt?
Das Interview erschien in Ausgabe 24 der VORTEILE, die die besten öffentlichen Bauten unter den Einreichungen zum Fritz-Höger-Preis 2020 für Backstein-Architektur präsentiert.