Wandel Lorch Götze Wach
Für diese komplexe Transformation haben Wandel Lorch immer wieder neue Konzepte entwickelt. So ist das Dokumentationszentrum in Hinzert buchstäblich ein Objekt materialisierter Historie. Am Ort des ehemaligen „SS-Sonderlagers“ sind keinerlei Geschichtsspuren mehr erkenntlich, die Geschichte konnte sich dort nur noch durch Berichte konkretisieren, aber diese Form von „Oral History“ wird bald abbrechen, deshalb musste eine Form gefunden werden, wie die Überlieferung für die Nachgeborenen lebendig gehalten wird. Wandel Lorch entwickelten ein Objekt, das zum einen den Ort wieder lesbar macht und zum anderen selbst eindringliches Geschichtszeichen ist. Hülle und Tragwerk des Gebäudes sind nahezu identisch und bilden sich als Innenraum ab, die changierende Rostoberfläche der Corten-Stahl -Elemente vermittelt über die Patina den Geschichtsprozess und wirkt wie ein Störkörper in der Landschaft. Rohbau und Ausbau sind verschmolzen, die Architekten sehen deshalb zu Recht eine gewisse Parallele zur kargen, farblosen Architektur der Zisterzienser, die deren asketischen Geist durch Materialität und Raum verkörpert. Der Innenraum ist völlig frei gehalten, die Information der Ausstellung ist dem Material durch Bedrucken der Wandflächen buchstäblich eingeschrieben. Wer aus dem Objekt in die Landschaft blickt, sieht durch ein transparentes historisches Foto wieder das ehemalige Lager am ursprünglichen Ort. Die Gegenwart wird mit der Geschichte überblendet, der dreidimensionale Raum weitet sich in die vierte Dimension der historischen Zeit, die Geschichte des Ortes wird durch "Material Zeit" zum Bestandteil des Objekts. Wie bereits am Börneplatz in Frankfurt haben Wandel Lorch auch in Hinzert eine neue Form architektonischer Erinnerungskultur geschaffen, indem sie durch eine materialbezogene reflexive Gestaltung jene Balance erreichten, die Salomon Korn treffend als Ziel für Gedenkstätten unserer Zeit formulierte: Jede Gestaltung ästhetisiert „immer ein Stück weit jenen Schrecken, der Gegenstand der Mahnung ist", während eine Zurücknahme des Ausdrucks leicht zum „Umschlagen ins Nichtssagende“ führt. Es geht also darum, sowohl eine rein künstlerische Individualisierung wie auch eine Banalisierung zu verweigern und stattdessen nur durch .Verdichtung des gedanklichen Gegenstandes" ein Maximum an Aussage und Wirkung zu schaffen.
Dies erreichen die Architekten durch eine kongeniale, immer wieder neu entwickelte Verknüpfung von Materialzuständen mit historisch-politischen Diskursen. So gelang es ihnen bei der Gestaltung von „Gleis 17“ in Berlin -Grunewald, dem Ort an dem 1941 die Deportation der Berliner Juden begann, durch wenige aber prägnante Eingriffe sowohl in die Geschichte zurückzuführen, wie auch die seitdem vergangene Zeit ins Bewusstsein zu heben. Der Betrachter wird durch die Stahlplatten mit der Chronologie der Deportation und durch die Vegetation zwischen den Gleisen in ein geradezu zwingendes Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und seiner eigenen Gegenwart gebracht. Die Gedenkstätte ist somit eherne Geschichte, aber doch kein Ort einer abgeschlossenen Historie, sondern auch Teil unserer „Zeit" Weitere Strategien und Potenziale der „Material Zeit" entfalten Wandel Lorch bei ihren Projekten für Gedenkstätten und Dokumentationsorte in Ravensbrück, Köln und München. Auf diesem Wege haben sie in den vergangenen fünfzehn Jahren ein ebenso eigenständiges wie einprägsames und einzigartiges Profil innerhalb der Architektur gewonnen.
Der Titel der Ausstellung „Material Zeit" wurde von Wolfgang Lorch und Nikolaus Hirsch programmatisch gewählt, er bezeichnet die Eckpunkte wie auch die Essenz ihrer Architektur, die sie als Verbindung von materialen Zuständen mit konkreten Zeiträumen verstehen. "Zeit" verweist auf den durchgängigen Diskurs der Architekten mit historischen, politischen und gesellschaftsbezogenen Themen Architektur als Auseinandersetzung mit Fragestellungen und Antwort auf Aufgaben, die uns alle angehen und uns bedrängen, ist seitdem bereits zur Studentenzeit gewonnenen Wettbewerb zur Gestaltung des Börneplatzes in Frankfurt gleichsam der Basso continuo ihrer Arbeit Damit wird gleichzeitig auch die konstant reflexive Haltung der Architekten angesprochen. Jeder ihrer Entwürfe entsteht aus dem intensiven Studium nicht nur der Aufgabe, des Kontexts und des Ortes, sondern auch historischer Zusammenhänge, die umfassend recherchiert und auf spezifisch architektonische Weise integriert werden. Die Architektur von Wandel Lorch ist weder rein intuitiv künstlerische Formerfindung noch Emergenz nach den Gesetzen parametrischen Designs, sondern reflektierte und diskutierte Gestaltgebung.
„Material“ bedeutet zuerst ganz generell die Umsetzung einer Aufgabe und eines Konzepts in materielle Form im Sinne einer Verräumlichung von Programmen und von Antworten auf technische Probleme. In der Verbindung mit „Zeit", das heißt also mit dem politischen und sozialen Umfeld, wird ein Entwurf jedoch für Wandel Lorch zu einer neuen Form architektonischer Praxis, bei der es darum geht spezifische Bezüge und Sinnschichten mit dem verwendeten Material auszudrücken. Zur Kunst des Architekten gehört es, Materialien gestalt- und inhaltgebend für konkrete zeitgeschichtliche Zusammenhänge einzusetzen und bei Bedarf neu zu entwickeln. Architektur wird somit zu einer theoriegeleiteten Fertigkeit im klassischen Sinne von „Techne“.
In den Jahren des Kampfes um eine Durchsetzung der modernen Architektur wurden bestimmte Materialien vielfach mit einer besonderen Bedeutung hinterlegt. In Entsprechung zu den Idealen einer leichten Bauweise mit Skelettkonstruktionen und geöffneten Räumen galten Glas, Stahl und Sichtbeton als Ausdruck einer neuen, zeitgemäßen. progressiven Architekturauffassung, während Ziegel, Holz und Naturstein als konservative oder - wie im sowjetrussischen Konstruktivismus - bourgeoise Materialien eingestuft wurden. Diese spezifische Materialikonographie der Moderne wurde im Laufe der Jahre und über mehrere Generationen moderner Architekten überholt, für Wandel Lorch kann die Materialität eines Bauwerks ganz andere Bedeutungsebenen erschließen. Mit dem gewählten und geformten Material werden Ort, Kontext und konkrete „Zeit" integriert. Dazu wird die Substanz mit Bedeutungen hinterlegt, die einen Wahrnehmungsprozess initiieren, der zur Erschließung des Bauwerks führt. Zu diesem Prozess gehört auch die „Kreuzung" von Elementen im Sinne einer hybriden Architektur, in der aus Gegensätzlichkeiten neue Einheiten geschaffen werden. Das Material der Architektur wird auf diesem Wege für Wandel Lorch beides „Handwerk und Politik“.