Back to the Roots
Die beiden Jurorinnen Susanne Wartzeck und Silvia Schellenberg-Thaut haben mit Architekturexpertin Christina Gräwe nicht nur über die Siegerinnen und Sieger des Erich-Mendelsohn-Preises 2023 gesprochen, sondern auch über einfaches Bauen, die Gefühle, die Backstein auslöst, und die internationale Bedeutung des Wohnbaus gesprochen.
Mit knapp 600 Einreichungen war die Resonanz auf die Ausschreibung sehr groß. Wie bekommt man diese Fülle in den Griff – wie bewertet man die Qualitäten dennoch fair?
Silvia Schellenberg-Thaut (SST): Wir hatten alle sehr großen Respekt. Jedes Jurymitglied hat zunächst für sich die Projekte gesichtet und die Gebäude, die einen neugierig gemacht haben, wurden weiter diskutiert. Das fand ich fair, weil wir viel debattiert haben.
Susanne Wartzeck (SW): Ich möchte ergänzen: Der Durchschnitt dieses Jahrgangs war anspruchsvoller als zuvor, ein sehr, sehr anständiger Querschnitt. Und gerade bei Umbauprojekten musste man gründlicher schauen, wo sich die Qualität verbirgt; das ist ja häufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
SST: Es gibt da die lauten Projekte, die man sofort erkennt. Aber die Zeit der egomanen Architekturen ist vorbei! Es geht darum zu filtern, wo die Besonderheit ist, etwa: Geht es nur um die Fassade oder ist das Haus ganzheitlich gedacht?
Spiegelt dieser unaufgeregtere, eher leise Jahrgang vielleicht auch einen Wandel der Bauaufgaben und den Umgang damit?
SW: Ich würde sagen ja. Interessant war, dass wir alle, also auch die internationalen Jurymitglieder, genau hingeschaut haben, was im Umbau und in der Sanierung möglich ist. Auf diese Qualitäten konnten sich alle sofort einigen. Anders war das mit der Einschätzung „typisch deutscher Architektur“ durch die internationalen Gäste. Da gab es zunächst wenig Vorstellungskraft dafür, was es mit den hiesigen strengen Regelwerken bedeutet, ein Haus sauber hinzustellen.
SST: Wenn hier ein Backsteingebäude mit allen Detaillierungen endlich steht, ist das eine größere Herausforderung als in einem Land mit weniger Vorschriften und anderen klimatischen Bedingungen.
Den Fokus auf Sanierung merkt man beim Grand Prix, dem Weingut Clos Pachem von HARQUITECTES. Die Juryerklärung hebt die enge Verbindung zwischen Ästhetik und Technik hervor. Nimmt die Wahrnehmung dafür im Architekturdiskurs generell zu?
SW: Ich glaube, das ist mehr eine Fachsicht. Dass man sich daran erfreuen kann, ist zwar spürbar, aber für den Laien vielleicht nicht erheblich. Wir Fachleute empfinden es als unangenehm, wenn Backstein als Tapete daherkommt und nicht als massives Material behandelt wurde. Die Schwere ist ja nicht eigentlich negativ, der Stein muss einfach erst mal stehen.
SST: Wir Architekten haben doch alle die Nase voll von diesen ganzen Technikkosten, die die Gebäude so teuer werden lassen. Backstein bedeutet „back to the roots“. Er funktioniert statisch, außen wie innen, auch in 100 Jahren noch. Das macht für mich den Backstein so reizvoll. Die ganze Technikdebatte ist hausgemacht von denen, die Haustechnik protegieren. Aber ganz ehrlich: Nach 25 Jahren musst du die aufwendige Haustechnik doch austauschen. Das Haus aus Backstein steht einfach da.
Bei dem Weingut hat also das einfache Bauen zu einer hohen Ästhetik geführt, die die Technik leichtfüßig miterledigt hat?
SW: Ja, architektonisch gelöst, nicht technisch, das ist der große Unterschied. Mich hat an dem Projekt auch der Ortsbezug sehr begeistert. Hier wurde im besten Sinn der Ort weitergebaut. HARQUITECTES haben sich getraut, in ein altes Ding einfach etwas hineinzusetzen.
Sind Backsteinbauten besonders prädestiniert dafür, weitergebaut zu werden?
SST: Ja. Backstein ist ein ehrliches Material, es wird nie aus der Mode kommen. Es wird zwar mit viel Energieaufwand hergestellt, aber dann kann man es vielfältig und dauerhaft einsetzen und auch recyceln. Wenn man also die gesamten Lebenszyklus-Kosten betrachtet, ist es eben doch kein so teures Material.
SW: Die Forschung geht ja auch in die richtige Richtung. Etwa: Welchen Mörtel verwendet man, damit sich die Baustoffe wieder sauber trennen lassen? Damit macht man sich den Wert der einzelnen Komponenten bewusst.
Haben Sie mit Blick auf die internationalen Einreichungen Beispiele gefunden, von denen Sie sagen würden: Das würde ich gerne hierher übertragen und umsetzen?
SW: Ja, auf jeden Fall, denn solche Projekte kommen häufig leichter und poetischer daher. Sie haben oft eine große Eindringlichkeit. Das kann man zwar nicht nur auf andere Vorschriften und andere klimatische Bedingungen schieben, hat aber natürlich auch damit zu tun. Die Jojutla Central Gardens in Mexiko beispielsweise sind bezaubernd – so würde man das Projekt in Deutschland aus klimatischen Gründen aber nicht umsetzen. Dort wurde der Backstein genau dafür eingesetzt, wofür er ursprünglich mal erfunden wurde: Die Bögen, die Konstruktion und das Material selbst haben eine wunderschöne Wirkung. An der Stelle können wir im verkopften Deutschland dazulernen: beim Ansprechen der Gefühle. Ich weiß aber auch, dass es oft gegenüber Bauherren schwer zu vermitteln ist, dass ein Material so etwas leisten kann.
SST: In unserer Weltgegend ist das immer eine ernste Sache mit dem Backstein: Der steht, wumm! Das ist unser Bild vom Backstein. Ganz anders in den südlichen Ländern. Da gibt es häufig dieses leichte Filtermauerwerk und Luftzirkulation im Gebäude. Das Material ist beliebt, es schützt ja auch vor Hitze. Aber es wird nicht blockhaft gelesen, sondern verspielter, mit Lufträumen oder auch mal mit leichten Materialien wie einem Polycarbonatdach kombiniert. Das wirkt – ja …, irgendwie sozialer. Was mir an den Einreichungen aus südlichen Ländern auch gut gefallen hat, waren die vielen Beispiele aus dem geförderten Wohnungsbau, Sozialwohnungen mit Anspruch. Bei uns würde aktuell ein solches Haus nicht in Backstein gebaut, da bekäme eine einfachere, sprich günstigere Lösung den Vorzug.
Nun ist gerade der städtische Wohnungsbau in diesem Jahr prominent vertreten und entsprechend gewürdigt worden …
SST: Stimmt, es hat sich zum Schluss in der Diskussion und Preisverteilung der Fokus auf den Wohnungsbau in Städten gerichtet. Es gab drei besonders inspirierende Beispiele aus Berlin, Besòs und Zürich, die wir dann gleichwertig mit Gold in der Kategorie Geschosswohnungsbau ausgezeichnet haben.
SW: Das Gewicht für den Wohnungsbau war auch bei den ausländischen Kollegen sofort ein Thema. Das scheint europaweit virulent. Da fand ich es wichtig, eine möglichst große Bandbreite zu beachten – wie das etwas trutzigere Quartier Heidestraße Core aus Deutschland und das SOCIAL ATRIUM aus Spanien: diese einladende Leichtigkeit!
Preise sind ein Spiegel dessen, was sich im Bauwesen tut. Mit den Entscheidungen sendet man Signale aus. Welche Wünsche und Erwartungen haben Sie an den Erich-Mendelsohn-Preis 2026?
SW: Ich wünsche mir, dass man die Sanierung nicht mehr als eigene Kategorie festlegt. Denn das Thema zieht sich ohnehin inzwischen durch alle Kategorien. Was mir sehr gut gefallen hat, war die Kategorie Newcomer. Sie verschafft kleinen Projekten und jungen Büros die Möglichkeit, mitzumachen und Aufmerksamkeit zu erregen. Und ich wünsche den Backstein- und Klinkerherstellern, dass sie trotz der schwierigen Energiesituation genug Umsatz machen, um wieder einen solchen Preis auszuloben.
SST: Wichtig finde ich, weiterhin darauf zu achten, dass ein Gebäude ganzheitlich gedacht ist. Dass wir mehr Sanierungen und Umbauten sehen werden, halte ich für gesetzt. Das beste Projekt, unabhängig von Standort und Materialquelle, soll gewinnen. Sehr gut fand ich, dass der Auslober neutral geblieben ist. Wir waren frei in unseren Entscheidungen; das wünsche ich mir auch für die Zukunft. Und eine paritätische, generationenübergreifende Besetzung des Preisgerichts.
Vorausgesetzt, Sie sind keine Jurymitglieder, würden Sie 2026 einreichen?
SST: Ja! Wir hätten da sogar ein aktuelles, passendes Projekt.
Das Interview erschien in Ausgabe 25 der VORTEILE, die die besten Wohnungsbauten unter den Einreichungen zum Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur präsentiert.