Respektvolle Nachbarn
Mexiko-Stadt und das australische Sydney liegen knapp 13.000 Kilometer voneinander entfernt. Pavel Escobedo und Andres Solíz, die seit 2016 ein Architekturbüro in der mexikanischen Hauptstadt führen, und der Architekt Peter Besley, in London und jetzt vor allem in Sydney ansässig, leben in getrennten Welten. Architektur-Expertin Christina Gräwe hat mit beiden Büros über Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Gewinnerprojekte beim Fritz- Höger-Preis für Backstein-Architektur 2020 gesprochen. Die Casa Nakasone von Escobedo Soliz erhielt einen der beiden Grand Prix, Peter Besleys Couldrey House ist Winner Gold in der Kategorie Einfamilienhaus.
Lassen Sie uns zunächst generell über Einfamilienhäuser sprechen. Vielleicht kennen Sie die Debatte in Deutschland, wo zwar das Einfamilienhaus mit Garten nach wie vor der Wunschtraum der meisten Menschen ist, aber auch zunehmend kritische Stimmen laut werden. Wie ist die Situation in Mexiko beziehungsweise Australien?
Peter Besley (PB): In Australien ist die suburbane Zersiedelung ein Problem. Aber auch wegen des Mangels an Erfahrung mit anderen Formen städtischen Lebens. Es ist außerdem ein großes soziales Problem, denn das Leben am Stadtrand unterstützt einen vereinzelten und konsumorientierten Lebensstil. Ein Schritt vorwärts wäre, gemischte innerstädtische Gebiete wirklich attraktiv zu gestalten, sodass sich die Menschen entscheiden, lieber dort zu leben. Bezahlbare Wohnungen mit großzügigen Grundrissen, guter Belichtung, hohen Decken, Terrassen, das Ganze in einer grünen Nachbarschaft mit guter Versorgung, außerdem die Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen, von der Single- bis zur Mehrgenerationenwohnung, das wäre die ideale Mischung.
Pavel Escobedo + Andres Solíz (E + S): Mexiko-Stadt und die Metropolregion gehören zwar zu den bevölkerungsreichsten Gebieten weltweit, die Bewohnerdichte ist aber nicht besonders hoch. Der Fußabdruck der Flächenstadt ist umso größer. Niedrige Gebäude sind gerade an den Rändern sehr verbreitet, denn die Erdbebengefahr und die abschüssigen Gelände machen die Gründung und die Konstruktionen für höhere Häuser sehr teuer. In unserem Fall waren zunächst Zwillingshäuser auf dem Grundstück vorgesehen, aber während das erste im Bau war, entschied sich die Bauherrin anstelle des zweiten Hauses für einen größeren Garten. Meist bebauen die Menschen, die an der Peripherie wohnen, das gesamte Grundstück und lassen wenig Grün übrig, wo Wasser versickern kann. Wenn wir also dieses Stück Land als Bewässerungsmöglichkeit für den Untergrund sehen und den Garten als produktive Grünfläche für die Natur und die örtliche Fauna, dann ist das keine Verschwendung von Fläche, sondern ein notwendiger Ort für die Bewohner dort.
Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Bautraditionen in beiden Ländern. Herr Besley, Sie erzählen, dass die Bauweise des Couldrey House in Australien unüblich ist, wo Backstein-Häuser als Arme-Leute-Architektur gelten und leichtere Materialien eingesetzt werden, die weniger widerstandsfähig sind und die Häuser damit reparaturanfälliger machen.
PB: Das stimmt, in Australien wurde Backstein als Baustoff für preiswerte Arbeiterhäuser und als praktisches Alltagsmaterial gesehen, mit dem in der Nachkriegszeit viele Menschen umgehen konnten. Das ändert sich nun, weil das Land wohlhabender wird und die Bauherren mehr Bewusstsein für gute Gestaltung und überhaupt die Architektur entwickeln. Interessanterweise gilt Backstein inzwischen als angesagtes Material – auch für Bauexperimente. Kundschaft und Architekten sind heute besser über die Möglichkeiten und die Bandbreite an Ziegelprodukten informiert.
In Mexiko hingegen sind der Backstein und sein Verwandter, der getrocknete Lehmziegel, traditionell üblich, werden häufig lokal hergestellt und erleichtern ohne anspruchsvolle Technik den Eigenbau, was wiederum die Kosten senkt. War das hier der Fall?
E+S: In Mexiko-Stadt ist vor allem der rote Backstein sehr verbreitet und unschlagbar im Vergleich zu industrieller Keramik oder Beton, was die Bauzeit und -kosten angeht. Außerdem sind die örtlichen Handwerker meist sehr geschickt, das macht Mauerwerk in Handarbeit für die Konstruktion sehr ökonomisch.
Mein Eindruck ist, dass beide Häuser respektvoll mit ihrer jeweiligen Nachbarschaft umgehen. Aber es scheint, als antworte Couldrey House auf eine vorgefundene Situation aus kleinteiligen Einfamilienhäusern, während die Casa Nakasone ein Zeichen für eine vorweggenommene Umgebung, nämlich eine rasch wachsende neue Siedlung, setzt. Stimmt das?
E+S: Das ist richtig, wir erwarten, dass sich das Viertel stark verdichtet. Das Haus ist deshalb vor den Blicken zukünftiger Nachbarn geschützt und bietet da- durch Privatsphäre. Es schottet sich aber auch nicht ab, denn nach innen zum Patio gibt sich das Haus sehr offen.
PB: Couldrey House wirkt einerseits vollkommen fremd in seiner Nachbarschaft, die wie eine typische nordamerikanische Vorstadtgegend aussieht. Ich bin überrascht, dass die Leute es mögen; der Fahrer der lokalen Buslinie macht seine Fahrgäste sogar extra darauf aufmerksam. Trotz der Exotik verhält sich das Haus andererseits seiner Umgebung gegenüber aber auch respektvoll; es lässt der Straße den öffentlichen Charakter. Einfamilienhäuser orientieren sich ja häufig in alle Richtungen und behandeln die Straße nur als Zugangsweg. Couldrey House verbindet sich mit seiner Nachbarschaft wie mit einer Landschaft.
Beide Häuser haben interessante Oberflächen. Am Couldrey House fällt der fast weiße, längliche Ziegel auf, vor allem aber, dass der ebenfalls helle Mörtel unverstrichen und unregelmäßig aus den Fugen quillt, was eine feine Linienstruktur ergibt. Kinder haben den Vergleich zu glasiertem Kuchen gezogen. Bei der Casa Nakasone ist die sichtbare Stahlbetonstruktur, die vor Erdbeben schützt, mit unverputzten roten Ziegeln ausgefacht, was einen rohen und zugleich soliden Eindruck hinterlässt. Wie kam es jeweils dazu?
PB: Ich habe viele Jahre in Europa, hauptsächlich England, und außerdem im Mittleren Osten verbracht. Hier, als Architekt in Australien, empfinde ich die Unwiderstehlichkeit der Landschaft, der Flora und Fauna, in der ich baue, als besonders präsent. Und auch das Verständnis der First Nations (Anm.: Bevölkerung vor der britischen Kolonisierung) davon. Mein Versuch war, das Haus aus der Landschaft heraus zu bauen. Wenn du die Backstein-Oberflächen im australischen Licht siehst, wirken sie wie Baumrinden oder Sedimentgestein. Oder auch wie ein riesiger Ameisenhaufen. Dass Kinder an Kuchen denken, gefällt mir. Ich möchte die Architektur von einem verwertbaren Objekt wegbewegen zu etwas Unmittelbarem, Physischen, das aus seiner direkten Umgebung kommt.
E+S: Das endgültige Erscheinungsbild der Casa Nakasone war das Ergebnis von langen und intensiven Experimenten auf der Baustelle. Wir haben eng mit den Handwerkern zusammengearbeitet und Muster verschiedener Mauerwerksverbünde hergestellt. Wir wollten eine weiche Oberfläche sowie breite, flache Mörtelfugen und komplizierte Details vermeiden. Vor Ort haben wir dann festgestellt, dass wir eine noch sanftere Oberfläche erreichen, wenn wir die Wand mit anderen Backsteinen polieren, solange der Mörtel noch feucht ist. Darin unterscheiden sich die Oberflächen nun ganz subtil von denen der Ziegelnachbarn.
Ohne über Nachhaltigkeit nachzudenken, geht es beim Bauen nicht mehr. Hat das Ihre Entscheidung für Backstein beeinflusst?
E+S: Ja, sicher. Die Entscheidung für Backstein fiel auch, weil wir ein Material wollten, das solide und thermisch wirksam ist. Außerdem sollte es günstig und für die lokalen Kräfte einfach zu verbauen sein. Wir haben die Steine vor Ort gekauft; die Transportwege waren also sehr kurz, der Benzinverbrauch gering. Das Vulkangestein, das stellenweise verbaut ist, haben wir auf dem Grundstück selbst gefunden.
P+B: Ich stehe voll hinter der Nachhaltigkeitsbewegung. Das heiße, subtropische Klima in Australien erfordert eine robuste Bauweise, deshalb habe ich mich für Backstein entschieden. Es ist inzwischen ein echtes Problem hier, dass die billigen, leichten Materialien, die verwendet wurden, damit die Häuser rasch gebaut und verkauft werden konnten, jetzt innerhalb kurzer Zeit ersetzt werden müssen. Ich wollte etwas Schweres und Langlebiges bauen, das nicht ausgetauscht werden muss.
Inwieweit spielten CO2-Einsparungen eine Rolle in der Planung?
E+S: Unser Hauptanliegen war, mit einem Minimum an Material und Einsatz menschlicher Kräfte zu bauen. Nicht nur, um Geld zu sparen, sondern auch um dabei zu helfen, CO2 zu reduzieren.
PB: Das war auch beim Couldrey House e in wichtiger Punkt, aber mehr auf den gesamten Lebenszyklus bezogen als auf die Bauphase. CO2-Daten im Hausbau sind in Australien schwer zu bekommen, aber ich versuche, das weiterzuentwickeln.
Beide Häuser stehen in warmen, zeitweise feuchten Klimazonen. Wie geht das Mauerwerk damit um?
E+S: In Mexiko-Stadt herrscht von Juni bis September eine sehr intensive Regenperiode. Die große Qualität von Backstein ist, dass er dennoch gut altert und wenig Pflege braucht. Und seine Speicherfähigkeit, zusammen mit der des Vulkansteins, hält das Haus im Winter warm und im Sommer kühl.
PB: Fast der gesamte Wohnungsbau in Australien nutzt Baumasse nicht für die Temperaturregulierung. Die Bauleute sind mit dieser Technik nicht vertraut. Beim Couldrey House habe ich auch innerhalb der thermisch wirksamen Hülle eine schwere Konstruktion gewählt; das Haus wird also im Sommer passiv gekühlt und im Winter durch die tiefstehende Sonne aufgewärmt. Der Erfolg zeigt sich schon jetzt: Das Haus ist weit komfortabler als die anderen Häuser im Bezirk, wo ganzjährig die Klimaanlagen laufen. Es funktioniert hybrid: überwiegend über die thermische Masse und zusätzlich über die Fenster, die im Nordosten die kühlen Winde einfangen.
Das Interview erschien in Ausgabe 23 der VORTEILE, die die besten Einfamilienhäuser unter den Einreichungen zum Fritz-Höger-Preis 2020 für Backstein-Architektur präsentiert.