Baustoff mit eigener Sprache
Es sind Projekte, die begeistern: Bei der aktuellen Runde des Fritz-Höger-Preises für Backstein-Architektur bilden die eingereichten Arbeiten wieder den ganzen Facettenreichtum des Baustoffes ab. Architektur-Expertin Christina Gräwe hat mit den Jury-Mitgliedern Susanne Wartzeck, Präsidentin des BDA, und Ulrich Brinkmann, Redakteur der „Bauwelt“, darüber gesprochen, was die Gewinner ausmacht und was der Backstein insgesamt für die Architekturszene leistet.
Frau Wartzeck, Herr Brinkmann: Wie nehmen Sie den Baustoff Backstein wahr? Zugespitzt: Was kann er, was andere Materialien nicht können?
Susanne Wartzeck (SW): Zunächst ist das für mich ein Baustoff, der stark aus der Tradition kommt. Er hat viel mit dem Ort zu tun; ich persönlich überlege mir immer sehr genau, wo er wirklich hinpasst. Und er hat ein Eigenleben, entwickelt eine ganz eigene Sprache.
Ulrich Brinkmann (UB): Da stimme ich zu. Der Backstein bietet sogar mehr gestalterischen Spielraum als andere Materialien: Da ist die geringe Größe des Ziegels und die Möglichkeit, mit der Skalierung in der Wahrnehmung eines Gebäudes zu arbeiten. Da ist die Lebendigkeit der Fassadenfläche durch das Changieren der einzelnen Steine und die Kombination ihrer Schattierungen. Es lassen sich Muster und Reliefs erzeugen – die Geschichte der Architektur ist reich an Beispielen.
SW: Außerdem zeichnet den Backstein seine Dauerhaftigkeit aus. Er verzeiht viel und bietet unterschiedliche Spielmöglichkeiten: Man kann mit ihm digital oder parametrisch entwerfen, man kann ihn aber auch ganz klassisch einsetzen.
Haben die Jury-Sitzung, insbesondere die Gewinner- Projekte des Fritz-Höger-Preises 2020 für Backstein- Architektur diese Wahrnehmung verändert?
UB: Nein, im Gegenteil, meine Wahrnehmung des Materials hat sich durch die Vielfalt der Einreichungen bestätigt. Sie demonstrieren die große Bandbreite des Materialeinsatzes – und zwar auf der ganzen Welt.
SW: Hier pflichte ich bei: Die reichen Einsatzmöglichkeiten werden an den Ergebnissen des Preises sehr schön deutlich.
Das Spektrum ist bei den ausgezeichneten Projekten sehr weit. Zum allerersten Mal haben wir so- gar zwei Grand Prix-Gewinner. Wollte die Jury sich nicht festlegen?
SW: Einerseits war es wohl die Anzahl der Einreichungen. Außerdem sind die unterschiedlichen Bauaufgaben immer eine Herausforderung zu einem bestimmten Materialpreis. Ich kann einen Museumsbau nicht direkt mit einem Wohnhaus vergleichen. Zunächst muss ich die Qualität beurteilen: Wo ist der Materialeinsatz so überzeugend, dass es einen mitnimmt oder man sogar feststellt: Das habe ich in der Art und Weise noch nicht gesehen. Hier hatten wir zwei Pole: ein Einfamilienhäuschen und ein Museum. Beide sind so überzeugend durchgearbeitet, dass wir uns letztlich entschieden haben, beide auszuzeichnen.
UB: Wenn ich das noch ergänzen darf: Es ging da- rum, die Konsequenz des Umgangs in der Vielfalt des Möglichen zu würdigen – von einem mit großem Aufwand geplanten Museum in der Schweiz hin zu einem kleinen, ruppigen Wohnhaus in Mexiko.
Die Jury hebt in ihren Statements zu den Grand Prix-Gewinnern zum einen die Einfachheit, aber auch die Abstraktheit der beiden Projekte hervor. Wo liegen die Unterschiede und wo die Parallelen?
UB: Es ging nicht um Aufwand, um Geld, um Perfektion, sondern um konzeptionelle Entschiedenheit in Entwurf und Ausführung. Das haben wir bei diesen beiden Projekten trotz aller Unterschiede gleichermaßen überzeugend gefunden.
SW: Wir haben hier die beiden Endpunkte der Palette: das einfachste Konstruktionsprinzip, das man sich vorstellen kann und das begeistert, weil es in Mexiko wegen der klimatischen Verhältnisse möglich ist. Das Notwendigste, ein Dach über dem Kopf, zugleich schön und ohne großen Aufwand realisiert. Und auf der anderen Seite das absolut durchgestaltete, atemberaubend perfekte Gebilde des Museums, das einen ganz anderen Anspruch an den eigenen Auftritt hat. Das Wohnhaus ist eher konstruktiv, weil es die Mauer in dem Stahlbetonskelettrahmen selbst abbildet, während es bei dem Museum um eine klassische Fassade geht.
Die Reduktion auf das Wesentliche bestimmt seit über 100 Jahren die moderne Architektur. Lässt sich dieser Einfluss neben den Projekten von Escobedo Soliz und Barozzi Veiga auch bei Gold-Gewinnern erkennen?
SW: Letztlich zeichnet sich das in jedem der Preisträger irgendwo ab. Bei den beiden, die ganz oben stehen, sieht man diese Aspekte auf den Punkt gebracht. Es gab natürlich Diskussionen, ob und warum diese beiden nun besonders hervorstechen. Die Entscheidung war dann aber eindeutig. Andere Arbeiten haben Einzelaspekte, die man hervorheben kann, sei es der Umgang mit dem Bestand, sei es ein besonderer Ausdruck wie bei dem weißen Haus in Australien mit dem ungewöhnlichen Eingangsbereich, wo der Ziegel so stark geschlämmt ist, dass man ihn nur noch als Struktur wahrnimmt. Das hat uns auch imponiert, man würde sich so einen fein gearbeiteten Eingang bei Einfamilienhäusern häufiger wünschen. (Couldrey House, Peter Besley, Seven Hills, Australien, 2020)
UB: Zur Reduktion auf das Wesentliche möchte ich ergänzen: Für mich heißt das nicht notgedrungen Minimalismus. Es heißt Konzentration auf das Entscheidende, auf das Weglassen des Unerheblichen. Von daher lassen sich auch die weiteren prämierten Arbeiten dem zuordnen, was die Jury als beispiel- haft würdigen wollte. Wobei selbstverständlich auch heutige Aufgaben abgebildet werden sollten, die sich mit dem Material bewältigen lassen: von der Sanierung oder Ergänzung historischer Siedlungen bis hin zum Weiterbau einer industriell erstellten Großsiedlung aus den 1970er Jahren.
Gibt es im Gegensatz dazu auch ausgezeichnete Projekte, die dem Leitbild „Reduktion“ nicht folgen? Gab es Überraschungen?
SW: Große Überraschungen waren es weniger. Wir haben an manchen Stellen darüber nachgedacht, inwieweit der Backstein nur als Tapete verwendet wurde und das Gefühl erzeugte, den Gebäuden wird das Material wie ein Hemd übergezogen. Das wa- ren die, von denen wir uns in der ersten Runde verabschieden konnten. Bei den Preisträgern haben wir immer eine Konzentration auf einen materialgerechten Entwurfsansatz gespürt.
UB: Ich kann hier nur aus meiner Wahrnehmung sprechen. Vielleicht stand die Reduktion für die Architekten jeweils gar nicht im Vordergrund, aber für mich fügen sich alle ausgezeichneten Projekte in dieses Gesamtbild ein.
Der Backstein hält den Spagat zwischen einem traditionellen Image und immer wieder neuen und überraschenden Anwendungen. Erkennen Sie eine Tendenz in der zeitgenössischen Backstein- Architektur?
UB: Der Backstein unterliegt Moden – in den 1990er Jahren etwa war bei einigen Berliner Architekten ein hart gebrannter Klinker en vogue, den man heute längst nicht mehr so oft sieht. Andererseits haben Caruso St John in Bremen erst vor wenigen Jahren ein herausragendes Projekt realisiert, das genau damit arbeitet (Grand Prix 2017). Aber ehrlich gesagt: Mich interessieren Moden nicht im Geringsten, für mich zählt allein, wie reflektiert der Materialeinsatz erfolgt und wie durchdacht er umgesetzt wird.
SW: Momentan sehe ich in der Architekturdiskussion, dass erst einmal alles erlaubt und möglich ist. Auf den Backstein bezogen glaube ich, dass es eine Rückbesinnung gibt, die schon einige Jahre läuft. Grundsätzlich glaube ich, dass der Ziegel weiterhin seine Berechtigung und seinen Platz haben wird, einfach deshalb, weil er neben der Dauerhaftigkeit seine eigene Sprache spricht, sich sehr schön in Bestehendes eingliedert und den Dialog aufnimmt.
Der Fritz-Höger-Preis 2020 hat mit insgesamt 586 Einreichungen erneut eine sehr hohe Teilnehmerzahl erfahren. Hat sich der Baustoff dauerhaft im Repertoire zeitgemäßer Architektur etabliert? Das „altbackene“ Image widerlegen ja auch die zahlreichen Projekte in der Kategorie „Newcomer“, die große Experimentierlust zeigen …
SW: Das denke ich auch: Es ist ein Material, mit dem es Spaß bringt, zu arbeiten. Ich glaube nicht an einen Hype, aber ich glaube, dass man sich wieder besonnen hat und Backstein als selbstverständliches Material mitdenkt.
UB: Das sehe ich ähnlich: Bauen mit Backstein ist selbstverständlich etabliert.
Die Corona-Pandemie verändert die Art und Weise, wie und wo wir leben und arbeiten. Zum Abschluss die Bitte um eine Prognose: Wie könnten sich Wohnungs- oder Gewerbebau zukünftig verändern und welche Rolle kann der Backstein dabei spielen?
UB: Hier möchte ich einen Wunsch äußern: eine Rückkehr der Vormauerschale auch im Wohnungsbau anstelle des unsäglichen Styropor-Einsatzes, der wenig langlebig ist und der erstrebten Qualität des öffentlichen Raums nicht gerecht wird.
SW: Stichwort öffentlicher Raum: Worum wir uns kümmern müssen, sind die Innenstädte. Damit mei- ne ich nicht nur die der großen Städte, sondern alle Orte, wo es öffentliches Leben gibt. Es wird durch die Pandemie noch mehr Insolvenzen in Gastrono- mie und Einzelhandel geben. Wir müssen überlegen, wie wir wieder Leben in unsere Städte bekommen. Welche Qualitäten wir beibehalten und stärken, aber auch, was wir alternativ anbieten können, etwa mehr Wohnen. Aber es wird auch darum gehen, welche Aufenthaltsqualität wir den Menschen an öffentlichen Orten bieten können. Wie können wir etwa leerstehende Kaufhäuser für öffentliche Räume nutzen, die jedem zugutekommen? Das Problem war ja vorher schon da, die Pandemie beschleunigt den Prozess. Dort zu qualitätvollen Ergänzungen und Revitalisierungen zu kommen, auch mit einem ortsprägenden Material wie dem Backstein, ist die große Aufgabe der nächsten Jahre.